„Passt gut auf und beteiligt euch politisch.“

Bericht über das Zeitzeugenprojekt der Q2 in Zusammenarbeit mit dem evangelischen Forum Hanau und Pfarrer Dr. Steffen Merle.
Der 8. Mai 1945 jährte sich dieses Jahr zum 75. Mal. Manche nennen ihn den „Tag der Befreiung“, für andere steht die Niederlage Deutschlands im Vordergrund.
Um an das Ende des Zweiten Weltkrieges zu erinnern und diese Aufarbeitung ganz bewusst zu erleben, plante das evangelische Forum ein besonderes Projekt: Schülerinnen und Schüler der Oberstufe der Paul-Gerhard-Schule führten Interviews mit Zeitzeugen, dokumentieren Erinnerungen, beschrieben Gefühle von damals und arbeiteten zeitgeschichtliche Chroniken auf. Gemäß des Apells einer Zeitzeugin passten sie gut auf, nahmen viele Eindrücke mit und widmeten sich diesem geschichtlich und politisch zu aller Zeit relevanten Thema.
Die Ergebnisse des Projekts sollten dann im Rahmen einer Veranstaltung in der Alten Johanneskirche, zu der MdB Dr. Katja Leickert über die Friedensperspektive Europa referieren sollte, von den Schülerinnen und Schülern einem interessierten Publikum präsentiert werden. Leider kam Corona dazwischen und die Veranstaltung wurde abgesagt. Dennoch arbeiteten die Schülerinnen und Schüler unter Berücksichtigung aller Bestimmungen und Vorsichtsmaßnahmen an ihren jeweiligen Objekten und Ausarbeitungen, von denen sie einige anschließend im Unterricht vorstellten. Zunächst lohnt es sich zu fragen, wie es überhaupt zu dieser Projektidee kam.

Wie es zur Idee des Zeitzeugenprojekts kam
Beim Erstellen des Jahresprogramms stieß Pfarrer Dr. Steffen Merle auf dieses geschichtsträchtige Datum und ein Gespräch mit seiner Tochter ließ ihn ein gegenwärtiges Problem erkennen: Junge Menschen haben heutzutage kaum mehr im familiären Umfeld die Gelegenheit, mit Zeitzeugen zu sprechen. Wie sollen Jugendliche die Relevanz dieses bedeutsamen Themas hautnah erleben, wenn sie keine Gelegenheit zum persönlichen Kontakt haben. Das war der Auslöser und der Grundgedanke für dieses wertvolle Projekt und die damit verbundenen Begegnungen und Eindrücke. Es ging hierbei nicht nur um eine geschichtliche Rückschau, sondern auch um Verantwortung für die Zukunft. Gerade hinsichtlich der neusten rassistischen Vorkommnisse in Hanau erschien neben dem persönlichen Gewinn für die Oberstufenschülerinnen und -schüler eine inhaltliche Stellungnahme der Kirche zu einem gesellschaftlich so bedeutsamen Thema als überaus wichtig. Wir sind sehr dankbar für die gute Zusammenarbeit, für die Bereitschaft der Frauen und Männer, Einblicke in ihr privates Leben und in ihre Empfindungen zu gewähren, den verantwortungsvollen Umgang unserer Schülerinnen und Schüler sowie für die gelungene Bereicherung des Unterrichts.

Einblicke in einige Schülerarbeiten
Zunächst trafen sich die Schülerinnen und Schüler mit ihren zugeteilten Zeitzeugen. Manchmal war ein Treffen nicht möglich und sie telefonierten. Auf diese Weise bekamen sie die ersten Eindrücke in das Leben der Menschen, die das Kriegsende erlebten und konnten sich im Anschluss über die Umsetzung und Zielrichtung Gedanken machen. Die Ergebnisse waren sehr interessant und vielfältig. Die Schülerinnen und Schüler stellten allgemein die Relevanz des Themas dar, gingen auf den 8. Mai 1945 ein und führten dann die Herangehensweise, die inhaltliche Ausarbeitung und praktische Umsetzung aus. Der Fokus lag hierbei auf den Eindrücken, welche sie über das Leben ihres Zeitzeugen gewonnen haben.
Drei Schülerinnen thematisierten bspw. den abenteuerlichen Weg der Flucht bzw. Vertreibung ihrer Zeitzeugin aus Tschechien. Anhand einer Pinnwand in Holzoptik verbanden sie sehr umfassend historische Fakten mit den persönlichen Schilderungen der damals Jugendlichen. Sie erfuhren viel über die Auswirkungen auf den Schulbesuch und lernten auch die Relevanz und Rolle der Medien neu einzuschätzen. Während dieser emotionalen Zeitreise, so berichteten die Schülerinnen, stellten sie sich oft die Frage, was die Menschen damals wussten und woher. Ihre Zeitzeugin berichtete über die Schwierigkeit mangelnder Fremdsprachenkenntnisse, die dazu führte, dass die Menschen oft nur auf eine Informationsquelle zurückgreifen konnten. Das eröffnete den Schülern und Schülerinnen einen ganz neuen Blick auf ihre derzeitige Bildungssituation und auf die Chancen, die sich unter anderem durch Fremdsprachenkenntnisse ergeben. „Das Leben ist nun einmal so, nehmt es an und macht das beste draus. Ihr habt Glück, in der heutigen Zeit zu leben“ Diese eindrücklichen Worte der Zeitzeugin wirken nach.
Das Projekt zweier weiterer Schülerinnen orientierte sich an den sogenannten Stolpersteinen. Sie wollten zu bestimmten Bereichen im Leben ihres Zeitzeugen Erinnerungsboxen gestalten, in denen man etwas über das Leben zu der damaligen Zeit erfährt. Sie löteten auf die Deckel verschiedener Holzkästchen jeweils ein Schlagwort, wie etwa „Freund und Feind“ oder „Freiheit“. In den Kästchen befanden sich dazu passende Zitate. Äußerungen wie „wenn du nicht schießt, schießt der andere“ oder bezogen auf den 8. Mai 1945 „von einem Tag auf den anderen waren wir frei“ geben einen Einblick in das Leben und die damit verbundene Gefühlslage des Zeitzeugen.
Andere Gruppen stellten explizit den Schulalltag dar, andere bastelten eine Bombe als Skulptur oder gestalteten ein antik angehauchtes Fototagebuch. Eine Gruppe hatte sich ganz den literarischen Werken verschrieben und stellte in ihrer Ausarbeitung die Macht der Sprache dar. Auf diese Weise konnte man gut erkennen, dass sich die Schülerinnen und Schüler von ihren Gesprächspartnern inspirieren ließen und so ein passendes Thema und einen roten Faden fanden. So unterschiedlich die Leben und Erfahrungen der Zeitzeugen sind, so vielfältig gestalteten sich auch die Projekte der Schülerinnen und Schüler.

Was es den Schülerinnen und Schülern gebracht hat
Die Schülerinnen und Schüler hinterfragten an vielen Stellen ihre eigene Lebenssituation und untersuchten auf sachlicher Ebene auch manche Äußerung der Zeitzeugen kritisch. Somit war es eine sehr gewinnbringende Auseinandersetzung mit einem sehr bewegenden und spannenden Thema. In einer anschließenden Besprechung und Auswertung zeigten sich die Schülerinnen und Schüler sehr zufrieden. Sie konnten die Relevanz des Kriegsendes besser verstehen und bekamen einen umfassenden Einblick in die damalige Situation, was ihrer Meinung nach die Beschäftigung mit reinen Fakten und Büchern nicht leisten kann. Ebenso stellten sie fest, dass sie nun auch die Verantwortung tragen, das Erfahrene weiterzugeben und für sich selbst zu bewahren. Wenn man solche Aussagen von jungen Menschen hört, kann man getrost davon ausgehen, dass sie sich ihrer Verantwortung und ihrer Rolle in der Gesellschaft bewusst sind, auf sich und die Geschehnisse in ihrem Umfeld achten und sich sicherlich gemäß des Appels der Zeitzeugin politisch engagieren werden. Im Sinnes Richard von Weizsäcker, der in seiner Rede vom 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag davon spricht, dass wir keinen Hass sondern ein Miteinander leben sollen, wird dieses Projekt den Schülerinnen und Schülern sicher noch lange im Gedächtnis bleiben.